Am Ende bleibt nur der Schmerz!

Text Sandra Casalini / Fotos Kurt Reichenbach (Schweizer Illustrierte)

Es lag alles parat. Ein neues Kleid von Mery’s, Schuhe und Handtäschchen. Es sollte Nella Martinettis, 63, letzter grosser Auftritt werden. Im Final der SF-Sendung «Die grössten Schweizer Hits» wollte sie noch einmal für ihre Fans singen. «Stattdessen hockte ich auf dem Spitalbett, liess mir eine Pizza bringen, schaute die Sendung und weinte.» Anfang September wurde bei der Entertainerin Bauchspeicheldrüsen-Krebs diagnostiziert. Unheilbar. Eine Chemotherapie konnte den Tumor zwar aufhalten. Dann der Schicksalstag vor gut drei Wochen: Nach einer Chemotherapie bekommt Nella zu viel Morphium. «Drei Tage lang war ich im Delirium. Ich war mir sicher: Das ist mein Ende.» Nella kam glimpfich davon. «Ich möchte nicht dem Spital die Schuld geben. Solche Dinge können passieren. Ich habe tolle Ärzte und Pfegerinnen, die sich um mich kümmern.» Wie lange Nella noch zu leben hat, kann niemand sagen. «Vielleicht sind es Tage – vielleicht auch Jahre.» Müdigkeit, Schwäche und kaum erträgliche Schmerzen erschweren Nellas Alltag. Trotzdem will sie kämpfen. «Den Krebs habe ich akzeptiert. Aber solange ich die Kraft dazu habe, unterwerfe ich mich ihm nicht.» Und ein klein bisschen spricht der Triumph aus ihrer Stimme, als sie sagt: «Ich weiss, dass man mich oft für unglaubwürdig hielt. Aber jetzt berühre ich die Leute. Heute ist ein guter Tag. Nella in Jona SG weit auf, atmet tief ein, blinzelt in die wärmende Sonne. «Psychisch geht es mir im Moment hervorragend. Ich habe nach der Chemotherapie zwanzig Kilo abgenommen. Das sieht man, oder?» Vorsichtig setzt sie einen Fuss auf den verschneiten Balkon, singt leise vor sich hin. Dann erzählt sie: «Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit. Wir waren arm. Aber am Samstag gabs immer Schweinsvoressen mit Kartoffelstock. Das war unsere Freude.» Nach Regen suchten Nella, ihre ältere Schwester und ihr jüngerer Bruder im Garten Schnecken. Mein Bruder Mauro und ich hatten immer ein wunderbares Verhältnis. Wir lieben einander heiss.»

Atemberaubend. Nella auf ihrer Terrasse. "Ich gehe jeden Tag an die frische Luft".


Und Sie und Ihre Schwester Bettina? Wir haben seit zwanzig Jahren keinen Kontakt mehr. Sie war böse zu mir.Warum das? Vielleicht aus Neid. Weil ich im Showbusiness die Nummer 1 war. Möchten Sie sich nicht bei ihr melden? Sie hat mir sehr wehgetan. Ich kann ihr nicht verzeihen. Auch jetzt, da Ihnen womöglich nicht mehr so viel Zeit bleibt? Nein. Man kann nicht zwanzig Jahre Neid und Missgunst vergessen. Daran ändert auch der Tod nichts!

Nella atmet schwer. Sie hat Rückenschmerzen. Nicht wegen des Krebses, sondern wegen ihrer Fibromyalgie – Weichteil-Rheuma –, an der sie seit Jahren leidet. «Ich brauche etwas Morphium, dann gehts wieder besser.» Sie tröpfelt die Medizin bedächtig auf einen Kaffeelöffel, führt ihn zum Mund, schluckt, lässt sich aufs Sofa sinken. «Als ich mich entschied, meine Krankheit öffentlich zu verkünden, hoffte ich auf die Reaktion von zwei Menschen: meiner Schwester und meines langjährigen Lebenspartners. Es kam nichts. Kein Brief. Kein Anruf.» Zwanzig Jahre lang war Nella mit Paolo liiert. Er war ihre erste grosse Liebe. Und ist die einzig wahre geblieben. Eine Beziehung, geprägt von Leidenschaft und Schmerz. Er betrog sie, sie ihn. Sie war seelisch und körperlich abhängig von ihm. Als sie vierzig war, ging er. «Er nahm alles mit. Sogar das Bett.» Nellas Trost: Alkohol, Tabletten, Essen. «Das brauchte ich, um zu überleben. Ich nahm zu und lachte darüber. Aber eigentlich war mir zum Heulen!» Nella, was ist für Sie Liebe? Die körperliche Liebe vergeht. Ich hatte nach der Beziehung mit Paolo Flirts und Affären. Aber die Leidenschaft, die ich mit ihm hatte, erfuhr ich nie wieder. Spirituelle Liebe kann ewig dauern. Verbindet Sie eine solche Liebe mit Marianne Schneebeli, mit der Sie seit 23 Jahren zusammenleben? Ja. Marianne ist die Grösste für mich. Wir lieben einander sehr – platonisch! Sie sind sehr dominant in der Beziehung mit Marianne. Ich gebe zu, sie steht etwas in meinem Schatten. Das hat sie sich selbst aber so ausgesucht: Sie sagt, sie sei glücklich, wenn ich es bin. Nella schweigt. Ihre sonst so imposante Erscheinung wirkt eingesunken, erschöpft. «Können wir das Gespräch in meinem Schlafzimmer fortführen?», fragt sie. «Ich möchte mich hinlegen.» Erleichtert lässt sie sich auf ihr Bett fallen, greift sich die Fernbedienung der Stereoanlage. Schwülstige Orgelklänge füllen den Raum. Die Tür bleibt offen, der Blick auf den Gang ist frei. Überall Fotos. Nella mit Céline Dion. Nella mit ihrem Kater Otto. Nella als Comic Marianne existiert nicht an diesen Wänden. Vermutlich hat das, was sie in Nellas Biografie «Fertig lustig» einmal verlauten liess, tatsächlich ein Quäntchen Wahrheit: «Neben Nella wird man unsichtbar.» «Ich wollte berühmt werden, um jeden Preis», sagt Nella. Als junge Frau war sie Kindergärtnerin in Brissago TI. Zusammen mit ihrem Bruder Mauro trat sie nebenher als Sängerin auf. So wurde sie von Freddy Quinns Produzent Lothar Olias entdeckt. Der Rest ist Geschichte: Nella textete und komponierte über 200 Lieder, unter anderem «Ne partez pas sans moi», Céline Dions Siegerlied vom Eurovision Song Contest 1988. Bereits 1986 gewann Nella den ersten Grand Prix der Volksmusik mit dem Hit «Bella Musica» – der Titel verkaufte sich über 2,5 Millionen Mal. «Ich habe so viel gemacht in meinem Leben. Und doch frage ich mich immer wieder: «Was habe ich eigentlich geleistet?» Was war das Schlimmste in Ihrer Karriere? Die Zeiten, in denen ich in Kaufhäusern auftreten musste, zwischen Pasta und Stalden-Creme. Für vier, fünf Leute. Das war erniedrigend. Und keine Fotografen und Journalisten vor Ort … Ja, ich gebe es zu: Ich tat alles, um in den Schlagzeilen zu bleiben. Warum bloss? Ich war arm, klein und pummelig. Ich hatte Komplexe. Die Presse war gut für mein Ego. Aber Geschichten wie die angebliche Liebelei mit dem jungen Musiker Hens Grubenmann … Das war völlig erfunden! Mit Hens lief nie etwas. Das war für mich ein Spiel, ein Scherz. Erst später merkte ich, dass mir diese Geschichte mehr schadete als nützte. Ich machte mich lächerlich! Und die Romanze mit dem dreissig Jahre jüngeren Schlagersänger Claudio de Bartolo? Claudio war nicht meine grosse Liebe, aber ich hatte ihn gern. Wir waren immerhin zweieinhalb Jahre zusammen, und das nicht nur platonisch. Nella verzieht das Gesicht vor Schmerzen, versucht schwerfällig, sich auf die Seite zu drehen. Hastig tröpfelt sie Morphium auf den Löffel. Rita, die Haushälterin, bringt ihr eine Tasse Kaffee. Mit einem Schluck spült sie die Medizin herunter. «Ich habe mit Exit gesprochen. Wenn es so weit ist, habe ich kein Problem, mir helfen zu lassen. Es dauert drei Minuten, sagen sie.» Angst vor dem Tod hat Nella keine. «Schön wäre, einfach einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen.» Was danach kommt? «Ich weiss es nicht. Am liebsten wäre mir eigentlich, wenns einfach fertig wäre. Wiederkommen möchte ich nicht. Mir hat es hier nicht besonders gefallen.» Was bereuen Sie in Ihrem Leben? So vieles. Dass ich nicht Kindergärtnerin in Brissago geblieben bin. Dass ich dem Alkohol und den Tabletten nicht widerstehen konnte. Dass ich mit Paolo nie in Ruhe gesprochen habe – vielleicht wären wir dann heute noch zusammen. Und hätten Kinder? Ich war 25, als ich ein Kind von Paolo abtreiben liess. Für mich hatte meinegerade beginnende Karriere Vorrang. Ich stelle mir das Kind heute als Mann vor. Ich habe ihn umgebracht! Verspürten Sie danach nie mehr den Wunsch nach Kindern? Meine Karriere hat mich absorbiert. Kinder hatten da keinen Platz. (Lange Pause.) Ich war so oft allein.Langsam setzt sich Nella im Bett auf. «Noch lebe ich. Und die Zeit, die mir bleibt, will ich geniessen. Ich plane nicht mehr viel, bin einfachfroh, wenn ich den Tag ohne grosse Schmerzen überstehe.»