Nella 2006 - "Mamma mia, ich werde langsam alt !"

Am 21. Januar 2006 feiert sie ihren 60. Geburtstag und ist trotz ihrer Krankheit und der damit verbundenen Schmerzen nach wie vor ein fröhlicher Mensch und zu Scherzen aufgelegt.

Haben Sie heute Schmerzen?

Ich habe jeden Tag Schmerzen.

Man sieht es Ihnen auf den ersten Blick gar nicht an.

Das höre ich immer wieder. Anstatt mich andauernd zu beklagen, habe ich meine
Krankheit akzeptiert. Es ist aber ein Problem, dass Fibromyalgie oder Weichteil-
Rheuma, wie der deutsche Name lautet, nicht ernst genommen wird. Man unterstellt
uns Betroffenen, dass wir uns die Schmerzen nur einbilden, weil wir sie an immer
wieder verschiedenen Stellen des Körpers spüren.

Sie haben ein Buch über Ihre Krankheit geschrieben. Wollten Sie den Menschen
beweisen, dass Sie keine Simulantin sind?

Das auch. Aber mittlerweile muss ich sagen, dass es zu viele Leute gibt, die mir
nicht glauben. Sie sehen in mir nur die verrückte Skandalnudel.

Oder die immer fröhliche Tessinerin, die «Bella Musica», einen ihrer Hits, trällert.

Das geht ja noch. Schliesslich bin ich eine fröhliche Natur. Aber es macht mir schon
etwas Mühe, wenn ich starke Schmerzen habe und fremde Leute auf der Strasse
plötzlich «Bella Musica» singen. Ich tue dann so, als ob ich es lustig finden würde.
Die Leute wissen in dem Moment ja nicht, dass ich Schmerzen habe. Und ich will
nicht, dass sie sagen: «Diese Zicke hat nicht reagiert.» Dann spiele ich halt meine
Rolle.

Sie können manchmal gar nicht anders, als eine Rolle zu spielen?

Es ist einfach so, damit muss ich leben. Aber ich freue mich auch, wenn die Leute
sich nach so vielen Jahren an «Bella Musica» erinnern. Letztes Jahr war ich an
einem Rockkonzert. Die Halle war brechend voll von jungen Leuten. Als die mich
sahen, fingen sie an, «Bella Musica» zu singen. Das hat mich so gefreut.

Es gibt kaum jemanden im Land, der Sie nicht kennt und keine Details aus
Ihrem Privatleben weiss.


Das ist wahr, man weiss viel von mir. Ich gebe zu, dass mein Verhältnis zu den
Medien von Anfang an falsch war. Ich habe alles mitgemacht, was die Journali-
sten von mir verlangten. Das war ein Fehler.

Ein Fehler, den Sie bereuen?

Klar. Im Nachhinein schüttle ich den Kopf und frage mich, warum ich so naiv
gewesen bin.

Aber Sie hatten trotz allem grosse Erfolge als Sängerin, Komponistin und
Texterin, haben internationale Preise gewonnen und über tausend Konzerte
gegeben
.

Ja, aber ich habe auch viel verloren, viel verpasst. Mein Leben hat sich nur
noch um die Bühne gedreht. Wenn ich mich schön gemacht habe, dann nur
für den Auftritt, nie für mich selbst.

Was hätten Sie rückblickend anders machen sollen?

Es ist unmöglich, etwas anders zu machen. Als ich vor Jahren in Brasilien
war, habe ich so viel Blödsinn gemacht, dass ich innert einer Woche bei
allen die Nummer eins war. Obwohl mich da kein Mensch kannte. Jeden
Abend haben sie gerufen: «Nella, auf die Bühne.» Diese clowneske Person
ist einfach in mir drin. Diese Sucht nach dem Rampenlicht ist mein Schicksal.

Sie können nicht dagegen ankämpfen?

Das will ich auch gar nicht. Ich bin gerne fröhlich und lustig. Einfach nicht auf
Kommando. Mein Fehler war, dass ich zu viel gegeben habe für die Bühne
und das Publikum. Ich war gedrillt und habe aufgehört, auf meine Bedürfnisse
zu achten. Manchmal sehe ich mir im Fernsehen Sendungen über Prominente
an. Und es passiert mir, dass ich automatisch ein Lachen aufsetze, nur weil ich
im Fernsehen einen Fotografen sehe. Das ist verrückt. Aber ich kann heute
darüber lachen. Eines habe ich kapiert: Alles, was ich mache, tue ich für mich
selbst, für niemand anderen.

Hat Ihnen Ihre schwere Krankheit zu dieser Einsicht verholfen?

Genau. Die Fibromyalgie hat mich verändert. Im positiven Sinn. Heute versuche
ich, mich selbst zu sein und basta.

Das ist nicht einfach, wenn man jeden Tag Schmerzen hat.

Die Fibro habe ich jetzt seit mehr als zehn Jahren. Ich habe sie akzeptiert, und
ich kann mich gegen sie wehren. Manchmal ist die Fibro stärker als ich, aber
manchmal bin auch ich die Stärkere.

Sie reden von der Fibro, als ob sie ein Mensch wäre.

Sie ist ein Teil von mir.

Stellen Sie sich nie die Frage: «Warum ausgerechnet ich?»

Nein. Ich glaube, dass wir einen Weg haben auf der Erde, dass alles vorbe-
stimmt ist, auch, wann wir sterben müssen. Es bringt mir nichts, mich zu fragen,
warum es mich getroffen hat. Wenn ich das Ganze positiv anschaue, kann ich
besser damit leben. Akzeptieren - und fertig. Natürlich, die Krankheit ist immer
da. Oft verbringe ich drei Viertel des Tages im Bett. Dann erfreue ich mich an
kleinen Dingen.

Was sind das für Dinge?

Zum Beispiel eine kleine Süssigkeit, bevor ich schlafen gehe. Ein gutes Telefon
oder ein schönes E-Mail. Kleine, normale Dinge. Zum Beispiel ruft mich meine
Freundin jeden Abend aus dem Tessin an, damit ich auch hören kann, wie die
Tessiner Glocken klingen.

Eine Krankheit kann einsam machen.

Wenn ich zu lange alleine zu Hause bin, fange ich an, Emotionen zu suchen.
Gefühle, die ich früher hatte. Mein Kopf hat die immense Fähigkeit zurückzu-
denken. ich kann heute unmittelbar dieselben Gefühle empfinden, die ich
in meiner Kindheit hatte. Das ist gefährlich für mich.

Warum gefährlich?

Weil es manchmal an der Grenze ist, wie ich zurückdenke. Der Gedanke,
dass die Vergangenheit nie wiederkommt, macht mich wehmütig.

Leben Sie manchmal zu sehr in der Vergangenheit?

Vielleicht. Dort ist die Wärme, die Geborgenheit, die mir fehlt bei allem
Bösen, das ich erlebt habe.

Es tönt, als hätten Sie eine glückliche Kindheit gehabt.

Ja, ich hatte eine tolle Familie und eine sehr behütete Kindheit in Brissago
Wir haben zusammen Musik gemacht, viel gesungen und getanzt.

Welches ist Ihre früheste Erinnerung?

Diese Spielerei mit dem Wasser und der Erde. Wir haben in unseren
Eimern Wasser aus dem Waschtrog in den Garten geschleppt und es
vermischt mit Erde. Ich kann mich noch ganz genau an den Geruch von
nasser Erde erinnern.

Haben Sie auch schmerzliche Erinnerungen an Ihre Kindheit?

Ich habe eines Tages einen Vogel gefunden, der halb tot war. Ich brachte
ihn nach Hause und verabreichte ihm dasselbe Mittel, das meine Mutter
mir immer gab, wenn es mir schlecht ging. Fernet Branca. Stellen Sie
sich das mal vor! Der Vogel ist daran gestorben.

Ihre Krankheit hat Sie verändert. Es gab aber noch einen anderen Bruch
in Ihrem Leben, der Sie in eine tiefe Depression stürzte
.

Die Trennung von meinem langjährigen Freund. Ich habe ihn geliebt und
gehasst. Es war eine grosse Leidenschaft. Er hat mich betrogen, einen
Teil von mir getötet und mir das Vertrauen in die Männer genommen.
Das ist zwanzig Jahre her, aber seither fehlt ein Teil meines Lebens.

Waren spätere Beziehungen nicht mehr so intensiv?

Es war nie mehr dasselbe.

Sie hatten kein Glück mit der Liebe?

Nein, aber das liegt auch an mir. Ich war in späteren Beziehungen nicht
immer treu, weil ich auf der Suche war nach einem Mann, der mir so
viel gibt wie mein damaliger Freund. Das habe ich nie gefunden.
Deswegen bin ich für den Rest meines Lebens verletzt.

Wie weh tut Ihnen diese Trennung noch, nach über zwanzig Jahren?

Gar nicht. Ich habe resigniert. Diese Leidenschaft werde ich nie wieder
spüren; damit muss ich mich abfinden.

Hätten Sie gerne Kinder gehabt?

Ja und nein. Es wäre wunderbar, ein Kind zu haben. Aber Karriere
und Kind, das geht für mich nicht zusammen.

Sie haben sich für die Karriere entschieden. In Ihrem Buch schreiben
Sie, dass Sie eine Spur im Leben hinterlassen wollen. Mit anderen
Worten: Sie wünschen sich Unsterblichkeit.

Das stimmt, es ist ein Wille von mir, dass mein Name nicht vergessen
geht. Ich wurde übrigens fotografiert für die Landesbibliothek. Ich bin
dort im Archiv verewigt. Jetzt weiss ich, dass ich bleibe.
Das beruhigt mich.

Warum bedeutet Ihnen das so viel?

Vielleicht, weil ich kein Kind habe. Oder nein, doch nicht. Das ist eine
gute Frage. Ich weiss es nicht.

Durch Ihre Musik haben Sie ein Stück Unsterblichkeit erlangt. Wie
sieht Ihre berufliche Zukunft aus?


Mit meiner Krankheit kann ich kaum etwas planen. Im Moment arbeite
ich als Autorin mit einem Tenor zusammen. Aber ich stehe nie wieder
auf eine Bühne und singe. Schreiben Sie das! Mit der Bühne bin ich
seit zweieinhalb Jahren fertig. Ich habe es zwar noch ein paarmal
probiert. Aber ich muss auf meinen Körper hören. Ich kann ja kaum
zehn Minuten lang stehen. Weitere Auftritte wären eine Vergewaltigung.
Und die Leute würden sagen: Die arme Frau! Das brauche ich nicht.
Ich will kein Mitleid.

Sie ziehen sich also aus der Öffentlichkeit zurück.

Irgendwann muss man zurücktreten. Das gilt für jeden, der im Rampen-
licht steht. Die Leute wollen knackige Frauen sehen. Das ist gut so.
Mamma mia, ich bin sechzig, ich werde alt. Ich darf gar nicht daran
denken.

Warum nicht?

Ich habe Angst, dass zu meiner Krankheit andere Beschwerden hinzu-
kommen. Ich möchte in Würde sterben. Und nicht nur noch herumliegen
und aus Frustration die Leute belästigen, die es gut mit mir meinen. Ich
sehe oft, wie alte oder kranke Menschen böse werden. Es macht mir
Angst, dass ich vielleicht irgendwann auch so bin. Da sterbe ich lieber
früher.

Was löst die Vorstellung in Ihnen aus, dass Sie irgendwann ohne
Rampenlicht und Medien leben werden?


Es ist sicher kein einfacher Weg, den ich vor mir habe. Ich sage toi,
toi, toi für mich selbst. Wenn ich so weit bin, dass ich eine Zeitschrift
durchblättern kann, ohne sofort nach Bildern von mir zu suchen, dann
habe ich es geschafft. Dann habe ich das Rätsel gelöst.


Interwiew SF: Stefanie Werner - Fotos Philipp Rohner